Laut Pressemitteilung rügt die Kommission angebliche Gemeinschaftsrechtsverstöße in drei Sparten bzw. Sachverhaltskomplexen:
- die Berechnung von Architektenleistungen,
- die Befreiung von Rettungsdiensten von den Vergabevorschriften und
- die fehlende Begriffsbestimmung von „Postdiensten“.
Inhaltlich bezieht die Kommission ihre Beanstandungen der Vergabe von Rettungsdiensten auf die deutsche Umsetzungsregelung zur Bereichsausnahme: Letztere sieht vor, dass die EU-Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe (2014/24/EU) nicht gilt für die Beauftragung gemeinnütziger Organisationen und Vereinigungen mit bestimmten Dienstleistungen zur Gefahrenabwehr. Der deutsche Gesetzgeber versteht darunter laut dem letzten Halbsatz des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB „insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.“
Mit diesem letzten Halbsatz ergänzte der Bundesgesetzgeber seinerzeit den Ursprungswortlaut der Art. 10 lit. h RL 2014/24/EU (Vergabekoordinierungsrichtlinie) bzw. Art. 10 Abs. 8 lit. g RL 2014/23/EU (Konzessionsrichtlinie) um eine sog. Vermutungsregel zugunsten der Hilfsorganisationen.
Die Bundesregierung argumentiert: Die in § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. Hs. GWB angesprochene Anerkennung als Zivil- und Katastrophenschutzorganisation sei eben keine Voraussetzung, um als Auftragnehmer unter die Bereichsausnahme zu fallen. Diese Einrichtungen gälten nur „insbesondere“ als gemeinnützig. Anders ausgedrückt: Auch andere Organisationen oder Vereinigungen ohne Anerkennung im Zivil-/ Katastrophenschutz könnten selbstverständlich unter die Bereichsausnahme fallen, wenn sie nur das Merkmal der Gemeinnützigkeit erfüllen.
Die Kommission hingegen verweist auf die Entscheidung des EuGH im Vorlageverfahren des OLG Düsseldorf in Sachen Falck (EuGH, Urt. v. 21.03.2019, Rs. C-465/17). Die Luxemburger Richter hätten klargestellt: Art. 10 lit. h RL 2014/24/EU ermöglicht keine Einordnung unter die Bereichsausnahme aufgrund anderer Kriterien als der Gemeinnützigkeit.
Graduell unterschiedliches Verständnis vom Begriff der Hilfsorganisation
Der Anlass für die erneute juristische Auseinandersetzung zwischen der Kommission und der Bundesrepublik Deutschland in Sachen Rettungsdienst dürfte diesmal eher im Graduellen liegen, im Kern letztlich im unterschiedlichen Verständnis vom Begriff der „Hilfsorganisation“. Während nach nationalem Rechtsverständnis in Deutschland unter den Begriff (derzeit) lediglich ASB, DLRG, DRK, JUH und MHD fallen, ist die gemeinschaftsrechtliche Auslegung eine weitergehende. Insofern kennt die deutsche „Brille“ tatsächlich nur Hilfsorganisationen, die auch gemeinnützig sind. Nach europäischer Lesart hingegen kann dies auch auf andere Organisationen zutreffen, die nicht unbedingt gemeinnützig sein müssen – mit der Folge, dass dann § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. Hs. GWB in der Tat eine Tatbestandsvariante schaffen würde, die in den europäischen Vergaberichtlinien nicht vorgesehen ist.
Grundsätzlich erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt die inhaltliche „Fallhöhe“ des erneuten Vertragsverletzungsverfahrens eher gering: Selbst ein etwaiger Nachbesserungsbedarf bliebe rein praktisch ohne Auswirkungen auf das Regelungsergebnis zumindest der bundesrechtlichen Regelung des § 107 GWB. Sollte sich die Auffassung der Kommission vor dem EuGH durchsetzen, könnte dies allerdings Auswirkungen auf solche landesrechtlichen Regelungen haben, die neben der Gemeinnützigkeit weitere Voraussetzungen für die Anwendbarkeit auf bestimmte (potentielle) Bieter aufstellen.
Folgen für die Praxis
Die aktuelle Entwicklung unterstreicht die Notwendigkeit, sowohl die (strukturellen) Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme, als auch deren Voraussetzungen und Grenzen in den landesrechtlichen Regelungen der Rettungsdienstgesetze sauber abzubilden. Generell gilt sowohl für die Landesgesetzgeber, als auch für die Aufgabenträger: Jede Beschränkung des Wettbewerbs muss den hohen Hürden insbesondere des Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) genügen. Bei einer Entscheidung zur Anwendung der Bereichsausnahme kommt es deshalb auf den Einzelfall an. Denn sie wird auch bei einer grundsätzlichen Weichenstellung im jeweiligen Landesrettungsdienstgesetz immer an den konkreten Gegebenheiten des jeweiligen Rettungsdienstbereiches gemessen.