Bei einem Personalabbau sind Arbeitgebende gemäß § 112 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) verpflichtet, einen Interessenausgleich mit den Beschäftigten zu verhandeln und einen Sozialplan abzuschließen. Letzterer soll wirtschaftliche Nachteile der entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgleichen oder zumindest mildern. Dabei gilt es meist, ein begrenztes Budget zu verteilen. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts müssen Arbeitgebende und HR-Verantwortliche auf die sogenannte Verteilungsgerechtigkeit achten: Möglichst alle Arbeitnehmer, die entlassen werden, sollen eine Überbrückungshilfe bekommen, bis sie einen neuen Job haben oder Rente beziehen. Lebensalter und die Dauer der Betriebszugehörigkeit spielen eine wichtige Rolle für die Höhe der Abfindung. Zugleich ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu beachten.
In dem aktuellen Fall vor dem LAG Nürnberg hatten die Betriebsparteien einen Sozialplan verhandelt, der unter anderem auch Abfindungen für die Beschäftigten vorsah, deren Arbeitsplätze infolge einer Betriebsstilllegung wegfielen: Bis zu 61 Jahre alte Arbeitnehmende sollten für jedes Jahr der Betriebszugehörigkeit 0,6 Bruttomonatsgehälter erhalten. Wer aber bis zu einem bestimmten Stichtag bereits 62 Jahre alt war, dem wurde der Abfindungsanspruch pauschal auf ein Viertel gekürzt. Nach dem 24-monatigen Bezug von Arbeitslosengeld I konnten die entlassenen Beschäftigten entweder eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen oder die Regelaltersrente beziehen.
Kläger beruft sich auf Altersdiskriminierung
Der Kläger war als Knüpfer über 25 Jahre bei der Beklagten beschäftigt und verdiente zuletzt rund 2.500 Euro monatlich. Am Stichtag war er bereits über 62 Jahre alt. Ohne die Kürzung für rentennahe Arbeitnehmer hätte ihm ein Abfindungsanspruch in Höhe von knapp 37.000 Euro zugestanden. Aufgrund des Altersfaktors errechnete der beklagte Arbeitgeber eine Abfindung von etwa 9.250 Euro. Der Kläger machte vor dem Arbeitsgericht die Differenz geltend. Die Regelung im Sozialplan über die pauschale Abfindungskürzung für rentennahe Arbeitnehmer sei altersdiskriminierend und auch nicht nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG gerechtfertigt, demzufolge Differenzierungen nach Alter in Sozialplänen in bestimmten Ausnahmefällen zulässig sein können.
Kürzung nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG zulässig
Wie schon zuvor das Arbeitsgericht Bayreuth teilte das Landesarbeitsgericht Nürnberg diese Auffassung nicht: Es könne nach § 10 Satz 2 und 3 Nr. 6 AGG gerechtfertigt sein, wenn die Betriebsparteien in einem Sozialplan pauschal die Abfindungszahlungen für Arbeitnehmer kürzen, die bei ihrem Ausscheiden bereits das 62. Lebensjahr vollendet haben. Denn der deutsche Gesetzgeber verfolge mit dieser Regelung das Ziel, die Leistungen des Sozialplans an den wirtschaftlichen Nachteilen zu orientieren, die den Arbeitnehmern drohen, wenn sie durch eine Betriebsänderung ihren Job verlieren.
Abfindungen im Rahmen von Sozialplänen sind Überbrückungshilfe, keine Kompensation für Jobverlust
Die wirtschaftlichen Nachteile, die dem Mitarbeiter durch den Wegfall des Arbeitsentgelts entstehen, würden während des Bezugs des Arbeitslosengelds durch die Abfindung in Höhe von rund 9.250 Euro zumindest substantiell ausgeglichen. Es genüge, wenn die verbleibende Abfindungssumme sich zumindest eignet, die drohenden wirtschaftlichen Nachteile nennenswert abzumildern. Nicht zu berücksichtigen sei dabei die Höhe der Altersrente, die den Arbeitnehmenden konkret zusteht. Laut LAG Nürnberg stellt die Abfindung in einem Sozialplan weder ein zusätzliches Entgelt für die in der Vergangenheit geleistete Tätigkeit dar, noch sei sie eine Kompensation für den Verlust des Arbeitsplatzes. Stattdessen handele es sich ausschließlich um eine Überbrückungshilfe bis zu einer wirtschaftlichen Absicherung.
Kürzungen für rentennahe Jahrgänge dienen der Verteilungsgerechtigkeit
Da das Volumen des Sozialplans aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation des beklagten Arbeitgebers sehr begrenzt war, mussten die Betriebsparteien die zur Verfügung stehenden Mittel für den Ausgleich künftiger Nachteile optimieren, so die Nürnberger Richter. Aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit dürfe dabei keine Gruppe übermäßig bevorzugt werden. Die Kürzung von Sozialplanleistungen für rentennahe Jahrgänge und sogar deren Ausschluss von Abfindungen sei grundsätzlich geeignet, für andere Gruppen von Arbeitnehmenden mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies diene dem legitimen Ziel, das begrenzte Sozialplanvolumen bedarfsgerecht zu verteilen.
„Rentenfernen“ Jahrgängen kann längere Arbeitslosigkeit drohen
In der pauschalen Kappung der Abfindungen von rentennahen Beschäftigten sahen die Nürnberger Richter eine zulässige unterschiedliche Behandlung wegen des Alters im Sinne von § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG. So handele es sich bei der typisierenden Beurteilung, rentenberechtigte und rentennahe Beschäftigte seien in der Regel stärker wirtschaftlich abgesichert als rentenferne Jahrgänge, um eine Einschätzung, die den Betriebsparteien im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums zustehe. Denn bei den Arbeitnehmehmenden, die nach dem Bezug von Arbeitslosengeld eine gesetzliche Altersrente beziehen können, sind die wirtschaftlichen Nachteile aus Sicht des LAG geringer. Schließlich könnten die „rentenfernen“ Beschäftigten von längerer Arbeitslosigkeit bedroht sein.
Höhe der späteren Rente nicht maßgeblich
Auch die Verhältnismäßigkeit gemäß § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG bejahten die Nürnberger Arbeitsrichter: Trotz Kürzung erhalte der Kläger immerhin fast vier Bruttomonatsverdienste. Dadurch würden die wirtschaftlichen Nachteile zumindest substantiell abgemildert, weil er unmittelbar nach Bezug von Arbeitslosengeld zumindest Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld habe. Auf die relativ geringe Höhe der vorzeitigen und der späteren Alternsrente komme es dabei nicht an. Auch ein Ausgleich für Abschläge durch die vorzeitige Inanspruchnahme von Alternsrente sei nicht erforderlich.
Das LAG Nürnberg hat gegen das Urteil die Revision zugelassen und das Bundesarbeitsgericht will darüber am 19.09.2023 entscheiden.
Das Urteil des LAG Nürnberg stellt klar: Es kann gerechtfertigt sein, wenn die Betriebsparteien in einem Sozialplan die Abfindungen für rentennahe Arbeitnehmer pauschal kürzen. Die individuelle Summe, die den älteren Beschäftigten verbleibt, muss aber zumindest geeignet sein, die drohenden wirtschaftlichen Nachteile nennenswert abzumildern. Mit der Entscheidung folgt das LAG der laufenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, das den Betriebsparteien Gestaltungsfreiheit zubilligt, wenn sie das typischerweise begrenzte Sozialplanvolumen verteilen.
Mit Blick auf den zunehmenden Fachkräftemangel stellt sich allerdings die Frage, ob die rentenfernen Jahrgänge tatsächlich von längerer Arbeitslosigkeit bedroht sind. HR-Verantwortliche sollten diesbezüglich also die weitere Entwicklung der Rechtsprechung verfolgen.