An den Argumenten für die Rechtsform SE ändert sich infolge des aktuellen Urteils aus Luxemburg zunächst einmal nichts: Bei einer deutschen AG oder GmbH stehen den Arbeitnehmenden nach dem Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) in der Regel ab 501 Arbeitnehmern ein Drittel der Sitze im Aufsichtsrat zu. Ab in der Regel 2.001 Arbeitnehmern gilt die paritätische Mitbestimmung und das Gremium muss laut Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) zu gleichen Teilen aus Vertretern der Anteilseigner und der Belegschaft zusammengesetzt sein. Vor allem stark wachsende Mittelständler und Familienunternehmen schrecken davor nicht selten zurück, weil sie beispielsweise um die Balance ihrer oft über viele Jahre sorgfältig austarierten Corporate-Governance-Struktur fürchten. Die Gründung einer SE kann einen Ausweg eröffnen: Aufgrund des sogenannten „Einfriereffekts“ lässt sich der Mitbestimmungsstatus in der SE für immer festschreiben. Dies gilt unabhängig davon, wie stark das Unternehmen wächst.
Mitbestimmung ist in der SE Verhandlungssache
Im Rahmen der SE-Gründung gilt § 21 SE-Beteiligungsgesetz (SEBG): Danach vereinbaren und gestalten die Leitung des Unternehmens und das die Interessen der Arbeitnehmer wahrnemende, sogenannte besondere Verhandlungsgremium die Regelungen für die Mitbestimmung und legen diese in einer Beteiligungsvereinbarung nieder. Die Inhalte können hierbei grundsätzlich weitgehend frei ausgehandelt werden. Eine Ausnahme gilt nach § 21 Abs. 6 SEBG bei der Gründung durch formwechselnde Umwandlung, bei der in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden muss, wie es in der Gesellschaft vor der Umwandlung bestand (Vorher-Nachher-Prinzip). Kommt es zu keiner Einigung, gelten die gesetzlichen Auffangregeln gemäß §§ 22 ff. SEBG. So können die Parteien im Rahmen ihrer Verhandlungsautonomie unter anderem das Wahlverfahren vereinfachen, um Aufwand und Kosten zu sparen.
EuGH schafft Klarheit zum Umfang des Vorher-Nachher-Prinzips
Mit der aktuellen Entscheidung hat der Europäische Gerichtshof nun dem Gestaltungsspielraum Grenzen gesetzt und mehr Klarheit geschaffen, wie weit der Bestandsschutz nach dem „Vorher-Nachher-Prinzip“ reicht: Von den Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung, die im selben Umfang wie vor der Umwandlung bestehen müssen, ist auch der für die Gewerkschaftsvertreter seprat durchzuführende Wahlgang umfasst. In einer Beteiligungsvereinbarung einer formgewechselten und paritätisch mitbestimmten SE darf daher keine hiervon abweichende Regelung getroffen werden.
Im konkreten Fall hatten die Gewerkschaften IG Metall und Verdi vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) gegen das Softwareunternehmen SAP geklagt: Das Unternehmen hatte im Rahmen der formwechselnden Umwandlung in eine SE abweichend von § 16 Abs. 2 Satz 1 MitbestG in seiner Beteiligungsvereinbarung festgelegt, dass Kandidaten der Gewerkschaften zur Wahl der Arbeitnehmervertreter nicht mehr in seperaten Wahlgängen bestimmt werden sollen. Laut den Gewerkschaften war dadurch nicht mehr sichergestellt, dass ihre Repräsentanten gewählt werden. Die Regeln sollten greifen, sobald der Aufsichtsrat von 18 auf 12 Mitglieder verkleinert würde. Nach Unternehmensangaben war eine Verkleinerung aber nicht geplant und die beiden Gewerkschaften waren im Aufsichtsrat der SAP auch nicht vertreten.
Das BAG legte den Fall dem EuGH vor. Die Luxemburger Richter stellten nun klar: Gemäß dem das Vorher-Nachher-Prinzip auf europäischer Ebene regelnden Art. 4 Abs. 4 der SE-Richtlinie muss die Beteiligungsvereinbarung bei einer SE-Gründung durch formwechselnde Umwandlung auch einen gesonderten Wahlgang für Gewerkschafter vorsehen, sofern das nationale Recht dies vorsieht (und das Wahlverfahren Regelungsbestandteil der Beteiligungsvereinbarung ist). Alle Komponeten der Arbeitnehmerbeteiligung müssen zumindest im gleichen Ausmaß gewährleistet sein wie in der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt wird. Das gelte gerade auch für das Wahlverfahren als eine kennzeichnende Komponente für die Mitbestimmung. Zugleich verdeutlicht der EuGH: Das Vorschlagsrecht für einen Anteil der Kandidaten ist nicht nur deutschen Gewerkschaften vorbehalten, sondern gilt für alle im Betrieb vertretenen Gewerkschaften. In Ermangelung gesetzlicher Regelungen bleibt allerdings offen, welche Folgen die (nun zu erwartende) Feststellung des BAG über die Rechtswidrigkeit der Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung hat. Ob in einem solchen Fall zum Beispiel auf die gesetzlichen Auffangregeln gemäß §§ 22 ff. SEBG zurückzugreifen ist oder sogar eine Änderung der Beteiligungsvereinbarung erforderlich wird, bleibt daher abzuwarten.
Folgen für die Praxis
Konsequenzen für die Praxis hat das aktuelle Urteil lediglich für formgewechselte SEs, die der paritätischen Mitbestimung unterliegen. Sie müssen prüfen, ob und inwieweit ihre Beteiligungsvereinbarung Regelungen enthält, die den Vorgaben des EuGH widersprechen. Für alle anderen SEs hat das Urteil keine unmittelbaren Auswirkungen. Für Unternehmen, die eine Beteiligung von Gewerkschaften möglichst vermeiden wollen, stellt die Entscheidung klar: In Zukunft ist dies nur möglich, wenn die Umwandlung zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem die Anwendungsschwelle für das die Gewerkschaftsvertreter privilegierende MitbestG noch nicht überschritten ist.
Pläne der Ampelregierung
Im Blick behalten sollten Unternehmen auch die Pläne des Gesetzgebers: Wie bereits berichtet will sich die Ampelregierung laut Koalitionsvertrag dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird. Eine „Flucht“ aus der deutschen Mitbestimmung beziehungsweise das „Einfrieren“ eines bestehenden Mitbestimmungsniveaus durch Gründung einer SE soll künftig nicht mehr möglich sein.
Allerdings ist das SE-Recht europäischen Ursprungs und basiert in seiner Gesamtheit auf der SE-RL sowie der SE-VO. Eine mitbestimmungsrechtliche Verschärfung auf europäischer Rechtsebene würde einen entsprechenden Konsens der Mitgliedstaaten erfordern, der aus derzeitiger Perspektive als unwahrscheinlich gilt, da die deutsche Unternehmensmitbestimmung im europäischen Vergleich bereits sehr weitreichend ist.
Ein Alleingang der Bundesregierung auf nationaler Rechtsebene durch eine Änderung des SEBG ohne vorherige Anpassung der zugrundeliegenden EU-Rechtsakte und hin zu einer Erstreckung der deutschen Mitbestimmung auch auf ausländische SEs wäre insbesondere im Hinblick auf die EU-Niederlassungsfreiheit problematisch.
Deutlich einfacher könnte die Ampelregierung aber ihr Vorhaben umsetzen, indem sie mit ihrer Stimmenmehrheit das DrittelbG ändert und an die weitreichenderen Zurechnungsregeln des MitbestG angleicht. Und zwar dahingehend, dass bereits die „faktische“ Beherrschung eines Unternehmens (zum Beispiel durch mehrheitliche Beteiligung) ausreicht, damit dessen Arbeitnehmer der herrschenden Gesellschaft zugerechnet werden. Derzeit erfolgt eine Anrechnung im Anwendungsbereich des DrittelbG nur, wenn zwischen Unternehmen ein Beherrschungsvertrag besteht oder eine Tochter-AG in eine Mutter-AG gemäß §§ 319 ff. AktG eingegliedert ist, also sämtliche Aktien der Tochter-AG von der Mutter-AG gehalten werden. Eine solche Gesetzesänderung hätte weitreichende Folgen, weil sehr viele Unternehmen dadurch erstmals den Schwellenwert von in der Regel mehr als 500 Arbeitnehmern überschreiten und somit der Mitbestimmung unterworfen würden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass einzelne Koalitionsparteien in ihrem Wahlprogramm noch weitere Maßnahmen (wie zum Beispiel eine Herabsenkung des Schwellenwerts für die Anwendbarkeit der paritätischen Mitbestimmung von mehr als 2.000 auf mehr als 1.000 Arbeitnehmer) erwähnen, die im Zuge einer möglichen Gesetzesänderung möglicherweise ebenfalls umgesetzt werden könnten.
Das EuGH-Urteil konkretisiert das Vorher-Nachher-Prinzip: Sofern Unternehmen dem deutschen MitbestG unterliegen, müssen sie bei der Gründung einer SE sicherstellen, dass alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung, einschließlich des gesonderten Wahlgangs für die Gewerkschaftsvertreter, im gleichen Umfang wie vor der Umwandlung bestehen.
Bestehende SEs müssen, sofern sie bereits vor ihrer Umwandlung dem Anwendungsbereich des MitbestG unterfielen, überprüfen, ob ihre Beteiligungsvereinbarung die Anforderungen des Urteils erfüllt. Insbesondere ist zu analysieren, ob sie im Widerspruch zum Grundsatz des gesonderten Wahlgangs für Gewerkschaftskandidaten steht. Ist dies der Fall, sollte zunächst eine Einschätzung der daraus resultierenden Risiken vorgenommen und unter deren Berücksichtung einzelne Handlungsoptionen (zum Beispiel eine Anpassung der Beteiligungsvereinbarung) konkretisiert und gegeneinander abgewogen werden.
Mit Blick auf die Änderungspläne des Gesetzgebers sollten zudem Unternehmen aktiv werden, die überlegen, ob sie die bestehende Rechtsform in eine SE umwandeln, um den aktuellen Status der Mitbestimmung zu wahren. Unterfallen sie bisher nur dem DrittelbG und nicht dem MitbestG, profitieren sie derzeit noch von den im Vergleich zum MitbestG weniger strengen Vorgaben. Unternehmen, die bisher – mangels Erreichen der Anwendungsschwelle des DrittelbG – mitbestimmungsfrei sind, sollten prüfen, ob sie im Falle einer Angleichung der Zurechnungstatbestände des DrittelbG an das MitbestG gefährdet sind, die Anwendungsschwelle des DrittelbG zu überschreiten und gegebenfalls frühzeitig aktiv werden.